JUDITH SAUPPER

Der Leser, der Verschwörungstheoretiker und der Bombenbastler

Thomas Schiretz, 2012

Als ich wieder zu mir kam, war ich leicht benommen. Ich fragte mich, ob das, was ich in Erinnerung hatte, wirklich geschehen war. Zuerst erkannte ich nicht, wo ich war und woher dieses eigentümliche Summen kam, das ich hörte. Ich hatte ein Ziel, aber ich habe es nicht mehr deutlich vor Augen. Ich möchte jemanden fragen, was passiert ist. Ich lag der Länge nach auf dem Boden. Auf einem Spannteppich, der irgendwie säuerlich, muffig roch. Allmählich gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit und mir ging auf: Ich musste über irgendetwas gestolpert sein. Ich stolperte, fiel, und noch im Fallen erhaschte ich die Lehne eines Bürostuhls, die sich, unbeeindruckt von meiner misslichen Lage, von mir abwandte und mich ins Leere stürzen ließ. Dabei muss ich meinen Kopf an einer Kante gestoßen und für ein paar Sekunden das Bewusstsein verloren haben. Vorsichtig tastete ich mit flachen Händen meinen unbequemen Liegeplatz rund um mich ab, um nicht wieder eine Begegnung mit einem unliebsamen Gegenstand zu machen. So langsam dämmerte es mir, warum ich hier war … In erster Linie war es Udo, der mich drängte: Du musst dir das unbedingt einmal ansehen, es ist einfach ganz unglaublich! Judith Saupper, sagte er, ich kenne niemanden, der so obsessiv, so perfektionistisch arbeitet. Akribisch arbeitet sie en miniature Interieurs aus, alle Gegenstände so klein gefertigt, dass sie nahezu nicht mehr darstellbar sind und ihr Verschwinden nur mehr eine Frage der Zeit sein kann. Er hatte leicht reden vom Großen im Kleinen, von der Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, ich dachte an die Zeilen eines vergessenen Beatles-Songs: Your inside is out and your outside is in (aus: Everybody’s got something to hide except for Me and My Monkey; The White Album). Komm schon, sagte er, ich kann dir das nicht erklären, und zitierte Rodin: Du hast doch immer gesagt: Schöner als eine schöne Sache ist die Ruine einer schönen Sache! Ich ließ mich breitschlagen, denn schließlich hatte er auch meine Neugierde entfacht, und die trieb mich wie ein von Jägern verfolgtes Tier vor sich her. Genauestens prägte ich mir die Arrangements ein, ich bat um eine Lupe, um die Wege, die Objekte genau zu studieren. Ich war überzeugt, die Tische, das Sofa und die Bücherregale, den Zeitzünder und den Lötkolben auch im Dunkeln zu finden. Und jetzt war ich hier, irrte tastend umher und hatte die Orientierung verloren. Ich wusste es bereits, als ich eines dieser Saupper-Häuser zum ersten Mal sah. Eine unerklärbare düstere Morphologie, die nur einen Zweck hatte: ihre Betrachter unweigerlich in ihren Bann zu ziehen. Eine geradezu paranoide Anziehungskraft ging davon aus. Schutz und Verschlingen zugleich. Obwohl alles daran so tot war, wie es nur sein konnte. Bis dahin hatte ich kein unheimlicheres Abbild eines Hauses gesehen, einmal abgesehen von Edward Hoppers Haus am Bahndamm oder die Villa Bates in Hitchcocks Psycho. Ich hätte fliehen sollen, stattdessen zog es mich immer mehr zu diesen Behausungen hin, immer mehr spürte ich ihre unsichtbaren Tentakeln, die sich um meinen Körper schlangen, immer näher mich zu sich heranzogen, um mich zu einem Teil ihrer Substanz werden zu lassen. Kennen Sie dieses beklemmende Gefühl, unautorisiert in ein fremdes Gebäude einzudringen, einen Raum zu betreten, der tabu für Sie ist? Selbst wenn sich niemand in diesem Raum verbirgt, allein schon der Geruch der abwesenden Anwesenheit erzeugt einen kalten Schauer. Dabei lässt Saupper alles weg, was über den puren Raum hinausweist: Es gibt keine Menschen in ihren Skulpturen, nicht wirklich Ortsangaben, Fußabdrücke ja, Hinweise auf unzählige Bücher, auf ein unüberschaubares Zettelwerk mit detaillierten Konstrukten aus Verschwörungstheorien und ein perfides Instrumentarium zum Basteln einer Bombe. Hinweise, Spuren, die auf die abwesenden Bewohner, Akteure dieser Räume, verweisen. Ihre Objekte transformieren unsere Realität in abstrakt-beklemmende Szenarien – wir ergänzen die Bedeutung der leeren Saupper-Räume aus unserem kollektiven Gedächtnis. Es war zu spät. Man wird mich entdecken, man hat meine Spuren lesen können. Sie werden kommen und mich holen. Ich weiß nicht, was mich erwarten wird. Sie, der Leser, der Verschwörungstheoretiker und der Bombenbastler. Ich muss nur noch warten, ein klein wenig. Ich habe nur den Versuch zu begreifen unternommen. Aber man begreift erst wirklich, wenn es nichts mehr zu begreifen gibt. Ich dachte noch, ich werde es Udo sagen, ich muss es ihm sagen, irgendwo eine versteckte Notiz hinterlassen, damit er nicht denselben Fehler macht wie ich. Aber wenn sie es läsen, würden sie vielleicht nur eine weitere finstere Theorie daraus ableiten oder die geheime Botschaft entschlüsseln, die sich hinter meiner Geschichte verbirgt. Ob ich es aufschreibe oder nicht, macht keinen Unterschied, sie würden immer nach einem anderen Sinn suchen. Ich höre Schritte, sie sind jetzt vor der Türe. Ein Flüstern, ein Wispern, und dann höre ich noch sagen: Der Letzte löscht das Licht!