JUDITH SAUPPER

Im Klang der Häuserfluten

Theresia Hauenfels, 2014

Der Blick auf das Wasser. Ein See, dunkel. Die Wellen schwappen ans Ufer und spucken Gischt. Das Radio ist an. Es rauscht. Sechs Monate verbrachte die gebürtige Vorarlbergerin Judith Saupper im Turmatelier der ZF Kunststiftung in Friedrichshafen. Ihr Quartier: ein ehemaliger Bahnhof, den Reichsoberbaurat Karl Hagenmeyer 1933 am Hafengelände realisierte. Klar, kubisch, puristisch. Ein Haus, das heute als Zeppelin Museum in seiner Bespielung Kunst und Technik verbindet und das in den 1990er-Jahren vom Architekturbüro Jauss+Gaupp adaptiert wurde. Der Turm ragt hinlänglich über den Baukörper hinaus und orientiert sich zum Bodensee. Akkurat und symmetrisch sind horizontal Fensterreihen in das Hochformat geschnitten. Ein Haus, das sich als Protagonist für Judith Sauppers geometrische Architektur-Objekte eignen würde, mit denen die Künstlerin ihre modellartigen Parallelwelten generiert. Im Turm, direkt am Bodensee, zu leben heißt für ein paar Monate: Spaziergänge am Wasser durch das nahe Naturschutzgebiet, alleine durch die Stadt flanieren. Trotz aller Leute rundherum kann man doch von Isolation sprechen, die Arbeit geht gut voran, die Gutenachtgeschichten erzählt das Radio. Der See ist omnipräsent, die Welle füllt den Raum aus, vom Turm aus sieht man auf die Schweizer Seite des Dreiländerecks. Der Säntis befindet sich im direkten Blickfeld und mit ihm zeichnen sich die Alpen als Bergkulisse ab, die je nach Wetterlage an Schärfe gewinnen oder verlieren. Judith Saupper ist in der Schweiz aufgewachsen, ehe sie zum Studieren an die Akademie (heute Universität) für angewandte Kunst nach Wien ging. Die Silhouetten der Berge sind ihr vertraut. Ein großes Gebirge ist es auch, das den Fond für Judith Sauppers Arbeit bildet, die sie in Friedrichshafen konzipiert und umgesetzt hat. Die Dimensionen sind beachtlich: Sechs Papierbahnen mit insgesamt sieben Meter Länge und mehr als vier Meter Breite. Als Installation reicht Das Große Rauschen bis knapp unter die Decke des Ausstellungsraumes. Entlang der Höhenlinien breitet sich wie auf einem topographischen Teppich als Ornamentik ein Getümmel von lauter kleinen Häusern aus. Eine Demarkationslinie trennt das Feld in Boden- und Himmelsnähe. Im unteren Bereich sind die Abbildungen auf das Papier gedruckt, im oberen als Collage im Original angebracht. 475 Zeichnungen von Häusern sind es insgesamt, allesamt in schwarz-weiß gehalten. Architektonische Details sind ablesbar, jedes Gebäude ist mit der gleichen dokumentarischen Aufmerksamkeit bedacht: Ohne jeglichen Anflug von Ironie werden verkitschte Hütten ebenso visuell gescannt und zu Papier gebracht wie Häuser, die man auch in aktuellen Architekturzeitschriften oder Publikationen über die Moderne antreffen könnte. Die Linien und Flächen in schwarzer Tusche werten nicht, vielmehr zeichnen sie Lebensmodelle nach, denn in jedem Haus – auch wenn in der Darstellung nicht sichtbar – leben Menschen nach den ihnen eigenen Prinzipien. Das Interesse, mit dem Judith Saupper die Bauformen aufliest und konserviert, gleicht dem Anlegen einer Sammlung von Insekten, bei der sich schillernde Schmetterlinge ebenso wiederfinden wie vielgliedrige Flügelwesen oder garstig anmutende Käfer. Die Häuser, die abgebildet sind, gibt es wirklich und stammen aus dem Fotofundus, den die Künstlerin im Rahmen ihrer Reisen und bei ihren Beobachtungen im Alltag angelegt hat. Bauwerke aus Frankreich, Italien, Schweden, Schottland, Deutschland und Österreich sind in dieser Sammlung vertreten. Doch die Frage nach der Zuordnung zu landestypischen Stilen stellt sich erst gar nicht, denn frei von Epoche und Nationalität wurden sie alle entlang des Höhenzugs von Judith Sauppers Berglandschaft ausgesät. Nun wachsen sie als invasive Spezies fröhlich vor sich hin, wie auch in der Realität das Tiroler Haus mit seiner geschnitzten Veranda seinen Siegeszug in Ostösterreich angetreten hat oder moderne Hochhäuser in den französischen Alpen hochschießen. In erster Linie handelt es sich um Wohnhäuser, die Bandbreite reicht von bäuerlich bis städtisch. Auch Industrie kommt vor, eine Schule, ein wenig Sakrales. Nicht systematisiert, die Anordnung unterliegt Kriterien, die als arbiträr wahrgenommen werden können, wenn auch Judith Sauppers künstlerischen Entstehungsprozessen eine ihr eigene Systematik immanent ist. Der Wechsel in der Perspektive bei der Sicht auf die Häuser ist bewusst gewählt und stützt die Surrealität der Szenerie: Mit der frontalen Darstellung der Bauwerke erhöht sich mitunter die Ikonizität des Bildes. Als kontrastreiche Flächen geben Bäume und Grüngestaltung dem Ensemble Abwechslung wie Rhythmus. Dort, wo die Abbildungen der Häuser auf den Papieruntergrund collagenartig montiert wurden, entsteht durch die Überlagerung der Papiere in ihrer unterschiedlichen Materialität ein Knistern, das auch assoziativ mit dem titelgebenden Rauschen in Verbindung gebracht werden kann. Die Enden der sechs Bahnen sind geknittert und werfen Falten, die wellenartig nach oben streben. Passieren Besucher den Ausstellungsraum kann ein Luftzug die Bahnen in eine leichte Bewegung versetzten. Dann beginnt das Objekt leise zu knistern. Doch wie würde es klingen, wenn jedes der Häuser einen spezifischen Ton von sich geben würde? Überlagert die Frequenz eines Sichtbetonbauwerks die Stimmlage einer Jugendstilvilla? Kann der Kanon der Bauformen wortwörtlich begriffen werden? Und wie differenziert wäre der einzelne Sound im Tösen und Raunen und Dröhnen der Bebauung des ganzen Höhenzuges? Oder ist es nicht vielmehr die Momentaufnahme ihrer Nutzung, die all diese Häuser akustisch voneinander unterscheidet? „Schritte auf dem Dach“ – „Wind durch nicht geschlossenes Fenster“ – „Flaschengeklimper“ – „Kinderstimmen“ – „Pfeifen im Stiegenhaus“: Mit diesem Auszug aus mehr als 150 Begrifflichkeiten, mit denen Judith Saupper Das Große Rauschen verbal subsumiert, wird wieder deutlich, dass die Bauten ihres Konstruktes nicht unbewohnt sind. En passant nimmt man die Geräuschkulisse wahr, die durch die offenen Fenster dringt. Man hört den Fernseher oder vielleicht auch Gesprächsfetzen, wird punktuell Zeuge eines Alltags, denkt sich Gesichter dazu und malt sich Geschichten aus. Schon in der Installation Echo, ein Objekt mit Sound und Wildwuchs, das 2011 gemeinsam mit dem Komponisten Rupert Huber entstand, wurde dieser Synästhesie Rechnung getragen. Bei der Friedrichshafener Installation, die sich als alpines Panoptikum manifestiert, findet die Soundebene rein im Kopf des Betrachters statt. Trotz der Vielfalt der Abbildungen wird das visuelle Pendant des Rauschens – das Flimmern oder Flirren – jedoch nicht dezidiert von der Künstlerin angesprochen. Die akustische Denotation bleibt im Vordergrund des Titels des Werkes. Vor dem zeichenhaft reduzierten Bergpanorama lässt sich in einer Deduktion sogar der Höhenrausch miteinbeziehen. Denn der Rausch und das Rauschen haben die gemeinsame westgermanische Wortwurzel „rūschsen, riuschen“, ein Verb, das vom Duden Herkunftswörterbuch als wahrscheinlich lautnachahmenden Ursprungs klassifiziert wird. Mit der Verknüpfung von Bild- und Tonebene befasste sich Bettina Schmitt anhand der Darstellbarkeit von Wasser in der Landschaftsmalerei: „Ins feindliche Hochgebirge vorzudringen, in tiefe Abgründe hinunterzuschauen, die entfesselte Kraft großer Wasserfälle auf sich wirken zu lassen, diese Selbsterfahrung der Entgrenzung angesichts des Überwältigenden in der Natur wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Erlebnis des Erhabenen bewußt provoziert, inszeniert und theoretisch gefaßt.“ 1 Beim bedeutenden Semiotiker Roland Barthes wird das Rauschen nicht als romantisches Naturphänomen, sondern auf der akustischen Ebene verhandelt. Die Suspendierung von Sinn vollzieht sich in jenen Situationen, wo durch das Nichtverstehen der Sprache in einem fremden Land – im Beispiel von Barthes ist es Japan – das Gehörte zu einer undechiffrierbaren Tonabfolge wird. Le Bruissement de la Langue, erscheint 1984 als Sammlung Kritischer Essays.2 Das Rauschen als Phänomen beschäftigt auch Kommunikationstheoretiker wie Michel Serres. In den 1960er-Jahren stellte der Philosoph die physische Materialität des Kanals ins Zentrum seines Zeichenmodells, bei dem die Beziehung von Kommunikation zu Rauschen jener zwischen Sender und Empfänger vorangestellt wurde. Die Störquelle wird dabei zur eigenständigen Instanz.3 Das konkrete Wort „Störfaktor“ wird von der Künstlerin in ihrem Begriffskatalog angeführt. Wie aber lassen sich diese theoretischen Überlegungen darüber hinaus auf die Arbeitssituation von Judith Saupper in ihrem Friedrichshafener Turmatelier übertragen? Bernhard Siegert schreibt in seinem Aufsatz Die Geburt der Literatur aus dem Rauschen der Kanäle: „Mit dem Radio, durch das Schallereignissen als solchen ein elektronisches Verstärkungs-, Verarbeitungs- und Übertragungsmedium zu Verfügung gestellt wurde, wird das poetologische Modell, dem das Konzept des Parasiten zugrundeliegt (daß jedem Ausdruck, jedem Appell oder jeder Referentialisierung ein (phatischer) Bezug zur Störung vorausgeht), performativ. [ … ] Tatsächlich erscheint die Figur der Transzendierung des anthropologischen Sprachursprungsmodells durch die elektromagnetischen Kanäle explizit schon in einem der prominentesten Beiträge zur Ästhetik des Radios aus der Zeit der Weimarer Republik – in Rudolf Arnheims Rundfunk als Hörkunst. Radio ist für Arnheim zunächst ein Medium, das den Hörer in einen prähistorischen Zustand der Klangwelt zurückversetzt, in dem Sprache und Geräusch noch ungeschieden waren.“ 4 Radio läuft im Hintergrund. Der Kultursender des Österreichischen Rundfunks ist über das Internet weltweit abrufbar. Auch in Friedrichshafen. Judith Saupper zeichnet konzentriert. Im Durchschnitt 2,6027397 Häuser pro Tag ihres halbjährigen Aufenthaltes am Bodensee. Zäune, Giebel, Erker, Flachdächer, Fensterläden, Steinmauern. Ohne Lineal, gerade und mit sicherem Strich. Es sind keine beschönigenden Illustrationen. Fehlstellen – etwa an der Fassade – werden verbucht und aufgezeigt. Nüchtern sind die Zeichnungen dennoch nicht, es schwingt ein Erinnerungswert mit – der Regenguss beim Vorbeifahren, das Frühstück im Café gegenüber, der Besuch einer Veranstaltung in nächster Nähe. Judith Saupper lässt die Häuser Revue passieren und mit ihnen das Erlebte. Dazwischen „Skypeanruf“ – „Einsames Blättern in Büchern“ – „Das Schweigen der Angekommenen“, kann man in Judith Sauppers Textkonvolut Das Große Rauschen lesen. Das Gastatelier an einem Ort, der viele Stunden von Wien, von Partner, von Familie, von Freunden entfernt ist, bedeutet auch: Aufsichzurückgeworfensein in einer klar strukturierten Ordnung von Zeit und Raum, nahezu ablenkungsfrei. 1914 schreibt August Stramm:

Grausen

Ich und Ich und Ich und Ich

Grausen Brausen Rauschen Grausen

Träumen Splittern Branden Blenden

Sterneblenden Brausen Grausen

Rauschen

Grausen

Ich 5

Der Bodensee kann sehr dunkel sein, erklärt Judith Saupper. Eine große Fläche, der die Stadt Friedrichshafen eine Uferpromenade und einen Hafenbahnhof verdankt. Die detailgetreuen Szenarien, die in anderem Kontext real bestehen und die Judith Saupper – im Nebenberuf Szenenbildnerin – als Kulisse für viele Kapitel einer fiktiven Alpensaga zwischen Österreich, Deutschland und Schweiz entwirft, bleiben Räume, die nur von außen wahrgenommen werden können. Im Gegensatz zu vielen ihrer Objekte, bei denen Interieurs als Ausdruck des Charakters ihrer Bewohner fungieren, bleiben die Türen der Zeichnungen innerhalb der Installation Das Große Rauschen geschlossen. Sie verdichten sich zu Stationen einer imaginären Wanderkarte durch die Berge. Die konkrete Bezugnahme zur Landschaft bei den Zeichnungen ist neu, auch wenn in der Fassadengestaltung eines Wiener Innenstadthauses unter dem Titel Checklist: Zukunftsplanung aus dem Jahr 2013 die Landkarte abstrakt in Erscheinung tritt und verfremdete Naturaufnahmen bei den Fotoserien schon länger Präsenz zeigen. Judith Saupper hat in und für Friedrichshafen präzise das Territorium des gedanklichen Freiraumes eines Turmateliers, das zum See blickt, vermessen. Der Nächste oder die Nächste hat derweil den Raum bezogen. Es rauscht diffus. Irgendwer schaltet das Radio ab.

1 Bettina Schmitt: Das Rauschen malen. Wasser als Darstellungsproblem in der Landschaftsmalerei: 1675, 1745, 1810. In: Claudia Albes, Christiane Frey (Hg.): Darstellbarkeit. Zu einem ästhetisch-philosophischen Problem um 1800. Verlag Königshausen und Neumann, Würzburg 2003, S. 274.

2 Vgl. Roland Barthes: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV. edition suhrkamp, Frankfurt am Main 2006. Vgl. auch Susanne Scharnowski: Die Ästhetik des Erhabenen und des Rauschen. In: Andreas Hiepko, Katja Stopka (Hg.): Rauschen: seine Phänomenologie und Semantik zwischen Sinn und Störung. Verlag Königshausen und Neumann, Würzburg 2001, S. 52.

3 Vgl. Michel Serres: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. suhrkamp wissenschaft, Frankfurt am Main 1998.

4 Bernhard Siegert: Die Geburt der Literatur aus dem Rauschen der Kanäle. In: Michael Franz, Wolfgang Schäffner, Bernhard Siegert, Robert Stockhammer (Hg.): Electric Laokoon. Zeichen und Medien, von der Lochkarte zur Grammatologie. Akademie Verlag, Berlin 2007, S. 31.

5 August Stramm: Angststurm. In: August Stramm: Tropfblut: Gedichte aus dem Krieg. Edition Sirene, Berlin 1988, S. 35.