Landschaften
Markus Wild, 2020
Landschaften
Rede vom 7.März 2020 zur Eröffnung der Ausstellung It’s maybe a silly question but is the dog part of the work? Or: Rebuild Nature von Judith Saupper in der Galerie Hollenstein Lustenau von Prof. Dr. Markus Wild (Universität Basel) markus.wild@unibas.ch
Liebe Claudia Voit, Liebe Judith Saupper, Lieber Kol, Sehr geehrte Damen und Herren,
Es ist vielleicht eine dumme Frage, aber gehört der Hund Kol in die Reihe der zu Begrüssenden? It’s maybe a silly question but is the dog part of the work? Und noch eine dumme Frage: Gehören Tiere in eine schöne Landschaft?
Denkt man an die Landschaftsbilder, die wir aus der Kunst oder aus der Tourismusbranche kennen, spielen Wildtiere in ihnen kaum eine Rolle. Im Gegenteil, sie stören die Betrachtung einer schönen oder überwältigenden Landschaft. Denn zur Betrachtung einer schönen oder überwältigenden Landschaft gehört immer die vielleicht unbewusste Vorstellung, dass man der erste Mensch ist, der diese Landschaft zu Gesicht bekommt. Zumindest möchten wir Landschaft so betrachten, als wären wir die ersten Menschen. Dabei stören Tiere nur, die vorher schon da waren.
Eine schöne oder überwältigende Landschaft soll geschichtslos, zeitlos, sozusagen schon immer da sein. Deshalb hat eine solche Landschaft unberührte Natur zu sein. Zum Unberührten gehört auch, dass wir nichts von einer schönen Landschaft wollen. Es geht nicht darum, sie zu besiedeln, vermessen, durchqueren oder zu erobern. Mit einem Wort: eine schöne oder überwältigende Landschaft betrachten wir möglichst zweckfrei. Eine solche zweckfreie (ästhetische) Betrachtung macht auch uns für einen Moment von unseren Zwecken, Zielen und Funktionen frei. Auch darin würden Tiere nur stören. Wir wollen Berge, Seen, Wälder, Hügel, Auen, Bäche, Felsen, Wolken, Strände, Flüsse in ihrer Natürlichkeit sehen.
Jetzt passiert aber etwas Seltsames. Wir wollen den Anblick festhalten und machen ein Foto. Das ist kinderleicht, jeder und jede von uns hat heute einen Fotoapparat in Griffnähe. Weiter wissen wir, dass schöne und überwältigende Landschaften bedroht sind. Verkehr, Besiedlung, Tourismus, Wirtschaft, Energieproduktion, Klimaerwärmung und Umweltzerstörung bedrohen diese Landschaften. Also müssen wir sie schützen. Wenn wir Landschaften schützen wollen, müssen wir auch angeben, warum wir sie schützen möchten. Dazu müssen wir einer Landschaft einen Nutzen attestieren. Sie dient der Erholung, der Gesundheit, der Freizeit, als nationales Monument, als ein Stück Heimat.
Und jetzt geschieht das Seltsame, auf das ich Ihre Aufmerksamkeit lenken will. Wir haben gesehen: schöne und überwältigende Landschaften sind wichtig für uns, insofern wir sie ohne Zweck betrachten dürfen. Wir wissen auch: schöne Landschaften sind bedroht, und um sie zu schützen, müssen wir ihnen einen Zweck zuschreiben. Und dies ist nun das Seltsame: Damit Landschaften zweckfrei bleiben können, müssen wir ihnen einen Zweck geben. Die allgegenwärtige digitale Fotografie ist nur das Tüpfelchen auf dem „i“ dieser Seltsamkeit. Wir suchen zweckfreie Landschaften auf, um sie zu fotografieren. Schöne Landschaften haben den Zweck, Fotomotive zu sein, die wiederum den Zweck haben, andere via soziale Medien zu zeigen, dass wir in einer solchen Landschaft sind.
Um uns zweckfrei an schönen Landschaften zu freuen, müssen wir ihnen einen Zweck geben. Diese Seltsamkeit habe ich in einem Aufsatz als „Landschaftsparadox“ bezeichnet. Der Aufsatz trägt den Titel Juralandschaft mit Hund, Hügellandschaft mit Biber. [1] Wie Sie sehen, habe ich im Titel Tiere eingeschmuggelt, die in der Landschaft eher stören. Mehr noch. Judith Saupper hat ihren Hund Kol einmal als „Co-Künstler“ bezeichnet. Der Co-Autor meines Aufsatzes trägt den Namen „Titus Hunderich“.
Bei Wanderungen über den Jura mit Titus habe ich bemerkt, dass ich die Landschaft anders wahrzunehmen beginne. Titus achtet auf Dinge und interessiert sich für Geschehnisse, die mir ohne ihm entgangen wären. Vor allem hört, riecht und sieht er Tiere, die ich nicht höre, rieche und sehe. Mit der Zeit konnte ich seine Reaktionen lesen und verstand, dass die Landschaft um uns herum mit für mich unwahrnehmbaren Tieren bevölkert ist.
Diesen Gedanken hatte bereits der italienische Dichter Cesare Pavese in seinem 1948 erschienen Roman Das Haus auf dem Hügel beschrieben: „Mit dem Hund über die Hügel zu wandern ist schön: Im gehen schnuppert er und erkennt für uns die Wurzel, die Tierhöhlen, die Schluchten, das verborgene Leben und vervielfacht unsere Entdeckungsfreuden. Schon als Junge schien mir, ich würde, wenn ich ohne Hund durch die Wälder wanderte, zu viel vom Leben und den Geheimnissen der Erde verpassen.“[2]
Wegen dieser Wanderungen mit Titus kam mir die Idee, dass wir lernen müssen, Landschaften neu wahrzunehmen, um nicht zu viel „vom Leben und den Geheimnissen der Erde“ zu verpassen. Wir müssen lernen, sie als Landschaften für Tiere wahrzunehmen, nicht als Landschaften für uns, als Tierlandschaften. Statt Eigenschaften wie Harmonie und Schönheit, Stimmigkeit, Natürlichkeit, Abgrenzbarkeit erhält die Tierlandschaft Eigenschaften wie Überraschung, Verspieltheit, Freude, Gefahr oder Wildheit. Dadurch bekommt eine Landschaft ein neues Gesicht. Rebuild Nature -wie Judith Saupper sagt.
Im Nordosten des Jura haben sich nach 200 Jahren Abwesenheit wieder Biber angesiedelt. Gut zwei Gehstunden von meinem Wohnort entfernt hat ein Biber einen Bau und einen Damm in ehemaligen Fischweihern angelegt. Ich habe ihn erst einmal gesehen, während Titus ihn mehrmals längst gerochen oder gehört hatte. Ob ich den Biber wieder sehe oder nicht, macht für die neue Wahrnehmung der Landschaft keinen Unterschied. Die Landschaft erscheint mir nun als Landschaft des Bibers. Wasserwege, Wasserpflanzen und Bäume erhalten einen neuartigen Aspekt, weil sie einen Zweck für den Biber erfüllen. Der Biber hinterlässt gut sichtbar Spuren, könnte mir überraschen begegnen, erfreulicherweise Nachkommen haben, eine Bedrohung für die landwirtschaftlichen Nutzflächen darstellen oder in weitere Gewässer einwandern.
Ich dachte also bislang, dass wir eine Landschaft auf neue und aufregende Weise als schöne Landschaft erleben, wenn wir sie nicht mehr als schöne Landschaft für uns, sondern als Landschaft für Tiere sehen.
In der Begegnung mit Judith Sauppers Arbeit Portrait einer Landschaft ist mir aufgefallen, dass ich einen Denkfehler gemacht habe. Das scheint für einen Philosophen natürlich ausgesprochen peinlich zu sein. In Wahrheit sollte das einen Philosophen aber freuen, ohne Denkfehler kommt er nicht weit. Wichtiger aber ist, dass das sehr für Judith Sauppers Arbeiten spricht. Kunst, so sagt man, soll zum Denken anregen. Dabei soll jedoch nicht einfach wiederholt werden, was man eh schon denkt (so betrachten Laien manchmal Kunst). Dabei soll aber auch nicht die Kunst mit fashionablen Gedanken zugedacht werden (so betrachten Profis manchmal Kunst). Vielmehr soll die Kunst uns einen Strich durch die Gedanken machen. Wie sieht der Judith Sauppers in meinem Fall aus?
In Portrait einer Landschaft geht es um den menschlichen Umgang mit Katastrophen und der Erinnerung daran. Die Arbeit stellt Katastrophen dar, „die nicht weiter erklärt werden, sie werden nur angedeutet und wir vervollständigen sie durch unsere eigenen Erfahrungen und Ängste“.[3] Landschaft als Katastrophe? Wie erscheinen den Tieren, vor allem den Wildtieren, die von uns genutzten und gestalteten Landschaften? Habe ich nicht übersehen, wie Tiere die Landschaft erscheinen könnte?
Vor wenigen Tagen habe ich im Fensehen eine wunderschöne Kulturlandschaft gesehen. Ich sah den Bosporus, Istanbul, die riesige Kirche bzw. Moschee Hagia Sophia im goldenen Morgendunst. Das war der Hintergrund, weit im Hintergrund. Im Vordergrund sah ich einen hohen Zaun. Vor dem Zaun standen schwer bewaffnete griechische Polizisten, hinter dem Zaun, hinter dem Stacheldraht, hinter dem Tränengasnebel sah ich Flüchtlinge. Was mich an diesen Fernsehbildern noch mehr schockierte als sonst, war der Gegensatz zwischen der Friedenslandschaft im Hintergrund und der Kriegslandschaft im Vordergrund.
Der Psychologe Kurt Lewin hat gegen Ende des ersten Weltkrieges einen Aufsatz mit dem Titel Kriegslandschaft geschrieben. Lewin war Soldat. Er berichtete, wie sich das Landschaftserlebnis verändert, wenn man aus dem Urlaub zurück an die Front fährt. Zuerst reist man durch eine Friedenslandschaft, die Lewin so beschreibt: „Die Gegend schien sich nach allen Seiten hin ungefähr gleichmässig ins Unendliche zu erstrecken. Denn für gewöhnlich erlebt man die Landschaft auf diese Weise: Sie erstreckt sich, verhältnissmäßig unabhängig von den durch die besondere Geländeform bedingten Sichtverhältnissen, weit über den Raum hinaus, den nach optischen Gesetzen der Netzhaut, selbst sukzessiv, widerspiegeln kann; und diese Ausdehnung, -das ist wesentlich für die Friedenslandschaft – geht nach allen Richtungen gleicherweise ind Unendliche (…). Die Landschaft ist rund, ohne vorne und hinten.“[4]
Doch dann tritt er langsam in eine Kriegslandschaft ein, die Lewin wie folgt charakterisiert: „Nähert man sich jedoch der Frontzone, so gilt die Ausdehnung ins Unendliche nicht mehr unbedingt. Nach der Frontseite hin scheint die Gegend irgendwo aufzuhören; die Landschaft ist begrenzt. (…) Gerichtet erscheint die Landschaft; sie kennt ein Vorn und Hinten, und zwar ein Vorn und Hinten, das nicht auf den Marschierenden bezogen ist, sondern der Gegend selbst fest zukommt (…) Die Gegend scheint da ‚vorne‘ ein Ende zu haben, dem ein ‚Nichts‘ folgt. Diese Stelle des Abbrechens wird um so bestimmter, je näher man der vorderen Stellung kommt und je präziser die Vorstellung von der Lage des ersten Grabens wird…“[5]
Die Friedenslandschaft ist rundherum, unendlich und hat keine besondere Ausrichtung. Die Kriegslandschaft ist gezogen, begrenzt, bricht ab, hat eine Ausrichtung. Lewin bezeichnet sie – in zweideutiger Weise – auch als „gerichtete Landschaft“.
Wenn wir Menschen schöne und überwältigende Landschaften erleben, dann als Friedenslandschaften: rund, enendlich, unausgerichtet. Ich wanderte vor drei Jahren in Slowenien auf den Bergen zum Soča-Tal. Eine wunderschöne Landschaft, aber immer noch gezeichnet durch die zwölf Isonzoschlachten des Ersten Weltkriegs. Das verändert das Landschaftserlebnis spürbar.
Tiere erleben Landschaften vermutlich nicht als Friedenslandschaften, sondern als Kriegslandschaften. Ich möchte nicht darauf hinaus, dass in der Natur das „Fressen und Gefressen“ werden regiert, dass der Naturzustand ein Kriegszustand ist. Vielmehr möchte ich darauf hinaus, dass die von uns gestaltete und genutze Landschaft für Tiere eine Art Kriegslandschaft ist: Verkehr, Besiedlung, Tourismus, Energieproduktion, Klimaerwärmung und Umweltzerstörung sind für Wildtiere so etwas wie Kriegslinien und Kriegsbedrohungen.
Jede Strasse kann den Tod bedeuten, jede Drohne in Angst und Schrecken versetzen, jedes Gebäude kann eine tödliche Falle sein, jede Mähmaschine ein Massengrab, Abfall und Pestizide bedeuten Krankheit und Leid. Lebensraum wird zerstört. Die Jagdsaison bedeutet für Tiere Krieg. Wir nennen ihn euphemistisch „Jagddruck“.
Ich möchte nicht darauf hinaus, dass Tiere eine Kriegslandschaft erleben wie Kurt Lewin in Flandern, wie Soldaten im Isonzotal oder wie die syrischen Flüchtlinge die Grenze zwischen der Türkei und der EU. Vermutlich erleben Wildtiere unsere Landschaften eher als drohende Katastrophen, die nicht weiter erklärt, sondern nur angedeutet werden, die sie vervollständigen durch eigene Erfahrungen und Ängste.
Das war also mein Denkfehler. Ich dachte, dass wir eine Landschaft auf neue und aufregende Weise als schöne Landschaft erleben können, wenn wir sie nicht mehr als schöne Landschaft für uns, sondern als Landschaft für Tiere sehen lernen. Aber wenn unsere Landschaften für Tiere Kriegslandschaften sind (nicht weiter erklärt, nur angedeutet, vervollständigt durch eigene Erfahrungen und Ängste), dann ist es nicht schön, Landschaften mit den Augen der Tiere zu sehen, im Gegenteil, es bedeutet Krieg.
Vielleicht denken Sie, dass das alles wenig erbaulich ist, was ich Ihnen erzähle. Ich muss gestehen, dass ich es erbaulich finde. Die Beschäftigung mit Judith Sauppers Arbeiten haben mich von einer Illusion befreit. Ich stand immer noch unter dem Zauber der Illusion der zweckfreien, unberührten, zeitlosen Landschaft, die uns entlastet. Von einer Illusion befreit zu werden, das ist in meinen Augen erbaulich.
Meistens wird die Kunst mit der Illusion in Verbindung gebracht, die wirkliche Welt hingegen ist deren Gegenteil. Ich muss gestehen, dass ich das oft umgekehrt erlebe: die wirkliche Welt ist voller Illusionen, die Kunst nicht. Sie macht uns einen Strich durch unsere Illusionen.
Ich muss auch zugeben, dass ich dem Wort „Heimat“ mit grösserer Skepsis begegne. Judith Saupper benutzt es jedoch immer wieder. Zum Portrait einer Landschaft meint sie: „Der Begriff Landschaft wird als Synonym für Heimat verwendet; ein Landstrich der Schutz und Geborgenheit bedeutet und der durch die dort erlebte Vergangenheit und erträumte Zukunft ein ganzes Leben meint.“[6]
Sie gebraucht und zeigt Heimat so, dass sie eine Friedenslandschaft bedeutet oder andeutet. Die Friedenslandschaft ist rund (statt gezogen), rundherum unendlich (statt durch Fronten abbrechend) und hat keine besondere Ausrichtung (statt ein Vorne und Hinten). Zum Portrait einer Landschaft gehört auch der Hund. The dog is part of the work. Jetzt zeigt der Strich, den Judith Sauppers Arbeiten durch meine Gedanken gemacht haben, ganz deutlich in eine Richtung, die ich vorher nicht gesehen habe: Landschaft als Heimat kann es nur geben, wenn eine solche Landschaft für Menschen und Tiere eine Friedenslandschaft ist. Sonst ist sie eine Illusion.
[1] Markus Wild & Titus Hunderich, «Juralandschaft mit Hund, Hügellandschaft mit Biber. Eine Neubestimmung der ästhetischen Landschaft als Tierlandschaft», Tierstudien7 (2018), S. 55-65.
[2] Cesare Pavese, Das Haus auf dem Hügel(übersetzt von Maja Pflug( Zürich 2018, S. 7. Bezeichnend ist, dass die Handlung des Romans während des Zweiten Weltkriegs spielt und sich die Friedenslandschaft des ersten Kapitels in eine Kriegslandschaft (Turin wird bombardiert) verwandelt.
[3] https://galerie-hollenstein.lustenau.at/de/programm/programm-2020/judithsaupper
[4] Kurt Lewin, «Kriegslandschaft», Zeitschrift für angewandte Psychologie 12 (1917), S. 440-447, S. 441.
[5] Ebd.
[6] http://www.judithsaupper.com/de/projects/view/66